Politik - Corona und der Markt

Was Corona für unser Gesellschaftsmodell bedeutet

Money
Quelle Pixabay

Ich glaube eigentlich nicht, daß ich der einzige bin, dem folgendes aufgefallen ist:
Corona trifft bezüglich der Auswirkungen auf die eigene wirtschaftliche Existenz nicht alle Menschen gleich stark.
Auf der einen Seite gibt es Menschen, die arbeiten mehr oder weniger einfach so weiter wie bisher, vielleicht vom Homeoffice aus, aber mit einem regelmäßigem Einkommen.
Auf der anderen Seite gibt es auf einmal Menschen, deren wirtschaftliche Existenz hochgradig gefährdet ist, ohne daß diese Menschen groß etwas dafür könnten, einfach weil deren Tätigkeiten sich nicht mit einem Virus vertragen. Seien es Künstler, Restaurantbesitzer, quasi alles was auf sozialer Nähe beruht. Und es geht hier um viele Menschen.

Frau Kanzlerin Merkel hat die Corona-Krise als die größte Herausforderung seit dem WK2 bezeichnet. Sie hat das mit Blick auf den Arbeitsmarkt getan. In der Tat ist die Arbeitslosigkeit lange nicht mehr so dramatisch gestiegen und mit Blick auf die deutsche Historie kann einem durchaus etwas mulmig werden.
Aber ‘größte’ Herausforderung?
Es fehlt zwar im Augenblick an Dienstleistungen, die nicht ausgeführt werden und damit nicht in Anspruch genommen werden können, aber unsere Versorgung mit den vitalen Gütern ist keineswegs in Gefahr. Vor einer Versorgungs- oder gar Hungerkrise stehen wir als Gesellschaft nun wirklich nicht.

Ein Gedankenexperiment

Nehmen wir der Einfachheit einmal an, daß jede Tätigkeit und Dienstleistung irgendwie nützlich ist und von demjenigen bezahlt wird, der diese Tätigkeit inanspruch nimmt. Ebenfalls könnte man abstrahieren, daß es eigentlich keinen Unterschied bedeutet, ob jemand ein Auto herstellt, oder z.B. Lehrer ist. Beide Tätigkeiten bzw. Dienstleistungen werden benötigt und müssen entlohnt werden.

In einem solchen Idealfall bezahlen wir uns dann alle praktisch gegenseitig und die Menge des Geldes ist mehr oder weniger konstant und das Geld zirkuliert.
Ein idealer freier Markt sozusagen, in dem eine ausgeglichene Bilanz zwischen den Dienstleistungen herrscht. Es wird genau das hergestellt, was gebraucht wird, zumindest in dem Rahmen, was überhaupt in Summe angeboten werden kann.
Produktivitätszuwachs erhöht diese Summe und damit den Lebensstandard.

Angenommen jedes Hütchen repräsentiert einen Marktteilnehmer, die Streichhölzer seiner Farbe die angebotene Dienstleistung oder das Produkt und eine Münze das Geld, die Dienstleistung oder das Produkt zu kaufen
Nach einer Verkaufsrunde hat jeder Marktteilnehmer eine Dienstleistung oder Produkt gekauft und bezahlt. Wegen der ausgeglichenen Bilanz hat jeder genauso viel Geld wie zuvor.

Was passiert nun mit Corona? Einzelne Tätigkeiten werden mehr oder weniger vollständig aus diesem Kreislauf ausgeschlossen. Ein Künstler ist zwar noch Marktteilnehmer, allerdings ohne Dienstleistungs- oder Produktangebot.

In der neuen Ausgangslage mit Corona gibt es Marktteilnehmer, z.B. die Künstler, die ihre Dienstleistungen und Produkte nicht mehr anbieten können (Die grünen Streichhölzer wurden entfernt). Man beachte die Fledermaus als Virusquelle :-)

In diesem für den Künstler nicht mehr ganz so idealen Markt hat er jetzt genau zwei eigene Optionen

  • Er bietet eine andere Dienstleistung an, die ihn in den Markt zurückbringt, ein Künstler könnte ja z.B. Bäcker werden
  • Oder er verabschiedet sich vollständig, in dem er, zynisch gesprochen z.B. freiwillig verhungert
Am Anfang der Krise werden die Künstler (grüne Hütchen) von ihrem Restgeld noch andere Dienstleistungen kaufen können. Danach ist das Geld natürlich alle.

Gut, die zweite Option ist keine. Selbst die Vertreter eines Marktfundamentalismus wie Milton Friedman plädieren grundsätzlich für eine Armutsunterstützung.

Optionen zur Finanzierung

Jedes Modell hat natürlich seine Grenzen. Zu berücksichtigen sind mindestens folgende Punkte:

  • Die Marktteilnehmer sind nicht nur einfach Teilnehmer, sondern tatsächlich Konkurrenten. Übrigens ob sie wollen oder nicht. Die Frage, ob jemand eine Dienstleistung anbieten kann wird also nicht nur über die Fähigkeit und Willen entschieden, sondern wesentlich über den Preis der Dienstleistung.
  • Sie sind deshalb Konkurrenten, weil der Bedarf nach Dienstleistungen und Tätigkeiten nicht konstant ist, sondern jeder Marktteilnehmer möglichst viel für sich selbst davon erwartet. Der eigene Lebensstandard lässt sich auf Kosten anderer steigern.
Die neue Ausgangslage nach Aufbrauchen der eigenen Rücklagen

Das berücksichtigend, was sind jetzt realistische Optionen, wie die durch Corona quasi ausgeschlossenen Marktteilnehmer weiterhin finanziert werden können?

(1) Selbstregulierung oder Abgaben

Verblüffenderweise gäbe es in dem Gedankenmodell eine einfache Lösung:
Alle anderen Marktteilnehmer tun einfach so, als ob sich nichts geändert hätte. Der Künstler tritt nicht auf, wird aber trotzdem bezahlt, als ob er aufgetreten wäre.
Es träte ein gewisser Wohlstandsverlust ein, weil die Dienstleistung des Künstlers real fehlt, aber ansonsten hätte sich nichts geändert, die Bäcker und Lehrer arbeiten ja noch wie vorher. Es zirkuliert auch dieselbe Menge Geld.

Jeder Marktteilnehmer bezahlt die Künstler wie vorher, ohne die Dienstleistung zu erhalten. Der Zustand entspricht der Corona Ausgangslage.

Dieses Modell einer solidarischen Finanzierung wird in einer realen Welt wohl nicht freiwillig eintreten. Es ist allerdings sehr gut vorstellbar, daß der Staat als ordnungspolitische Macht Steuern erhebt, die dem Corona-Verlust der nicht mehr angebotenen Dienstleistungen entspricht um insgesamt genau das skizzierte Nullsummenspiel zu erreichen.

(2) Keine Regulierung, Freier Markt

Die Option, daß der Künstler eine andere Dienstleistung anbietet, klingt logisch und wird von den Vertretern einer ‘unsichtbaren Hand des Marktes’ auch genau so propagiert. Die Frage ist jetzt, welche anderen Tätigkeiten könnten das sein? Kann ein Künstler jetzt z.B. einfach Bäcker oder Lehrer werden? Offensichtlich nicht so einfach. Es ist sogar noch schwieriger. In der ausgeglichenen Bilanz des Gedankenmodells gibt es gar keine anderen Dienstleistungen oder Tätigkeiten die nicht schon von jemand anderem qualifiziert ausgeführt werden.

Wir haben es also mit einer gewissen Lose Lose Lose Situation zu tun:
Der Künstler soll eine Tätigkeit ausführen, die er nicht kann, die er nicht will und die eigentlich auch nicht benötigt wird.
Und weiterleben will er verständlicherweise auch.

Im Gedankenmodell ergäbe sich folgende Verkaufsabfolge

Jeder Marktteilnehmer sucht sich eine andere Tätigkeit (jeder Künstler betätigt sich als Bäcker)
Alle alten und neuen Bäcker bieten aufgrund des nun enstandenen Überangebots ihre Produkte zum halben Preis an (Jedes rote Hütchen bekommt für zwei Streichhölzer eine Münze anstatt zwei)
Nach der zweiten Verkaufsrunde haben die anderen Marktteilnehmer mehr gekauft als benötigt (zwei rote statt ein Streichholz), die Bäcker bleiben auf einem Teil des Angebotes sitzen und haben insgesamt weniger eingenommen. Das eigene Geld schwindet.
Spätestens nach der vierten Verkaufsrunde haben die Bäcker kein Geld mehr und sind nicht mehr in der Lage alle anderen Dienstleistungen zu bezahlen

Die Situation ohne eine Regulierung des Freien Marktes führt also zwangsweise zu einer Kapitalkonzentration bei den übrigen Marktteilnehmern während die Corona-Betroffenen soweit verarmen, daß sie sich nicht mehr alle anderen Dienstleistungen leisten können. Zur schon oben angedeuteten Lose Lose Lose Situation kommt also noch ein unbefriedigendes Resultat. Und so ganz nebenbei verarmen nicht nur die Corona-Direktbetroffenen, sondern auch andere, die gar nicht zu der Gruppe gehörten (die ‘Alt-‘Bäcker)
Bemerkenswert ist noch, daß dieses Modell starke deflationäre Tendenzen aufweist, die Produkte werden preiswerter, die Geldmenge bleibt aber gleich. Geld würde wahrscheinlich bei den ‘gesunden’ Marktteilnehmern einfach gespart.

(3) Neues Geld von Außen

Man könnte anstatt einer Regulierung (Option 1) auch mehr Geld in Umlauf bringen.
Der Künstler bekommt Geld aus einem Topf, der zusätzlich bereitgestellt wird, es wird also neues Geld geschaffen. Damit ist für die Dauer der Krise mehr Geld im Umlauf, das nach der Krise wieder eingesammelt werden müsste.
Für die Dauer der benötigten größeren Geldmenge ist die Dienstleistung relativ weniger wert, allerdings für alle Teilnehmer gleichermaßen. Es gibt immer noch keine Kunst, aber alle anderen Tätigkeiten wären wie zuvor erhältlich, außer daß größere Nennbeträge den jeweiligen Besitzer wechseln. Der Lebensstandard bliebe gleich.

Die Künstler bekommen neugeschaffenes Geld von außen. Dieses muß bei jeder neuen Verkaufsrunde zugeschossen werden.

Ein direktes Resultat dieser Strategie wäre eine steigende Geldmengenkonzentration bei anderen Marktteilnehmern, eine Inflation wäre die direkte Folge.

Was hat das ganze mit der realen Welt zu tun?

Zu starke Vereinfachungen lassen sich nie auf das wirkliche Leben übertragen, schon klar. In den Modellen fehlt noch jede menge, z.B. die Betrachtung kleiner und großer Marktteilnehmer, ‘systemrelevante’ Marktteilnehmer, die Betrachtung der Rolle des Staates als Marktteilnehmer usw.
Trotzdem glaube ich aus diesen Modellen ein paar grundsätzliche Schlußfolgerungen ziehen zu können.

In einer Gesellschaft, in der ‘die Wirtschaft’ nicht die Dominanz ausübt, also in einer eher solidarisch orientierten Welt, gibt es die Option, daß sich niemand wirklich verschlechtert, natürlich im Rahmen der Coronasituation, daß nicht alle Dienstleistungen angeboten werden können. Die Gesellschaft würde so vermeiden daß es zu große und zu viele Gewinner und Verlierer gibt.
Ob durch Selbstregulierung oder äußeren Eingriff. Es gäbe trotzdem einen Markt, der die Dienstleistungen bedarfsgerecht zur Verfügung stellt, also auch keinen klassischen Sozialismus.

Die Option eines Freien Marktes tendiert dazu nicht den Nutzen der Dienstleistung selbst, sondern den Gewinn über die Dienstleistung in den Mittelpunkt zu stellen. Eine Selbstregulierung ist praktisch unmöglich, die nicht automatisch Gewinner und Verlierer erzeugt.
Um es nocheinmal zu betonen - es gehen nicht nur die direkt durch Corona bedingten Teile der Lebensqualität aufgrund der dadurch fehlenden Dienstleistungen verloren, sondern der Schaden ist zwangsläufig auch für viele gar nicht direkt Betroffene höher, was nicht sein müsste, da die vitale Versorgung ja eigentlich noch funktionieren sollte.

Ein Modell einer stetigen Geldmengenerhöhung zur Finanzierung stellt eine Mischform der beiden anderen dar, die einerseits zwar den Erhalt aller verbliebenen Dienstleistungen und Produkte garantiert, andererseits aber Kapitalkonzentrationen und Inflation heraufbeschwört, was mittelfristig zu größeren Problemen führen dürfte.

Fazit

In der gegenwärtigen Corona-Krise geht es nicht mehr nur um Solidarität. Die Zahlungen durch den Staat sind mittlerweile nötig um die Gesellschaft überhaupt noch aufrechtzuerhalten. Das alles wegen einer vergleichsweise kleinen Menge an Dienstleistungen die fehlt und einer praktisch unerschöpflichen Geldmenge.
DIW-Chef Marcel Fratzscher hat das so formuliert (Spiegel-Online):

“Der Markt kann in entscheidenden Bereichen nicht mehr allein funktionieren.”

Es zeigt sich also sehr deutlich, daß unter realen Marktbedingungen und Wettbewerb das theoretische Modell (1) nicht nur das sinnvollste, sondern das einzig machbare Modell ist, in dem die Gesellschaft durch eine funktionierende Ordnungsmacht als ganzes nicht verliert.

Dieses Ergebnis hat die Krise interessanterweise mit den anderen großen Krisen der letzten beiden Jahrzehnte gemein.

  • Die Finanzkrise als Sinnbild sowohl des Größenwahns, die Finanzwirtschaft zur dominanten Wirtschaft überhaupt zu machen und von der Realwirtschaft abzukoppeln, als auch der Idee, Probleme mit hinreichend großen Finanzprodukten lösen zu können
  • Die Klimakrise, in der der ungeregelte Wettbewerb dazu führt, unsere natürlichen Resourcen für Sachen zu verschwenden, die nicht gebraucht werden und uns gleichzeitig unserer Lebensgrundlagen beraubt.
Author

Detlef Winkelvoss

Posted on

2020-05-29

Updated on

2021-08-28

Licensed under